Mauerfall oder Mauerumbau ?
Was seit 1989 wirklich passiert ist
„Aber nein, damit wollte ich nichts zu tun haben.
Natürlich lief der Fernseher und mit Grausen betrachtete ich das Treiben,
das da gezeigt wurde. Tausende Menschen quetschten sich durch die Grenzübergänge
in den Westen und feierten ihre Freiheit. Schön, ich freute mich für
sie, war aber skeptisch, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf mein
Leben und das meiner Freunde in Westberlin haben würde. ....In den
letzten zehn Jahren hatte ich mir eine Welt aufgebaut, die sich jenseits
der Gesellschaft abspielte. Ich ver-
brachte meine Nächte im Schutz irgendeines
Hinterzimmers in einem der Szenelokale und der morgendliche Wiedereintritt
in das „wahre Leben“ der Stadt war für mich immer ein Alptraum gewesen.
Sobald ich im Morgengrauen die Straße betrat, sah ich mich mit einer
von Grund auf anders denkenden Bevölkerung konfrontiert.....Es schien
bewiesen, daß es nicht zwingend nötig war, sich mit den Normal-
bürgern abzugeben, geschweige denn, dieselbe
Art von Karriere einschlagen zu wollen. Jetzt sollte sich die Zahl derer
also schlag-
artig erhöhen, die stolz deklarierten
„Fußball ist unser Leben“, und
wo Ficken, Fressen, Fernsehen ohne jede Ironie
das Glück des klei-
nen Mannes bedeutete. Ich konnte mir nichts
Schlimmeres vorstel-
len.“ ( Alexander Hacke in „Krach“,
S. 129)
Die Nacht des Endes
Die Nacht der Berliner Grenzöffnung bekam
ich am Übergang Ober-
baumbrücke in Kreuzberg mit. Zu dieser
Zeit wohnte ich in Kreuz-
berg in der Skalitzerstrasse am Schlesischen Tor
in einer Parterre-
wohnung mit Fenstern zur Strasse hin, ein paar
Meter weiter war Berlin durch die Spree geteilt. Ich war vom Dreh für
einen Experi-
mentalfilm nach Hause gekommen, kaufte mir noch
ein Getränk am Imbiss, als ein Stehgast erzählte, daß die
drüben die Mauer auf-
machen. Eine Nachricht, die nur Geplapper sein
konnte, dachte ich wunschgemäß. Ich ging deshalb unaufgeregt
nach Hause und schal-
tete das Fernsehgerät ein, um zu prüfen,
was es mit den Imbiss-
News auf sich hatte. Als mir bald klar wurde,
daß die Grenze tat-
sächlich geöffnet worden war, entschloß
ich mich zu einem "Ab-
stecher" an die unweit meiner Wohnung gelegene
Grenzübergangs-
stelle Oberbaumbrücke, während mein
intuitiver Algorithmus mir unentwegt sagte: DDR-Bürger, die Maueröffnung
gewählt haben wählen meist auch CDU und Wiedervereinigung.
Als ich die Oberbaumbrücke erreichte, strömten
Menschen ihrer Neugier hinterher und an mir vorbei. In ihrer drängenden
Masse wirkten sie wie Überdruck, den man aus einem Kessel gelassen
hatte und der nun rasant austritt. Manche der Glücklichen trafen auf
die offenen Arme der Freunde aus Westberlin. Eine unglaubliche Erleich-
terung paarte sich bei vielen mit dem Unglauben
daran, daß es tat-
sächlich wahr sein würde. Und daß
die jahrzehntelange imaginäre Wirklichkeit aus dem Fernsehen und mitgebracht
von den Verwandten „drüben“ jetzt tatsächlich real geworden war.
Aber eben doch so un-
glaublich, daß sie sich offenbar zunächst
mehr als Traum denn als Realität anfühlte.
Ich konnte dieses grosse Gefühl von Befreiung
von der Kasernierung nachvollziehen, wünschte aber, daß es nur
ein Traum war, der als Realität irgendwie anders wiederauftaucht als
durch die Überflutung Westberlins grösstenteils mit Menschen,
die ich zu weiten Teilen immer verachtet hatte und es auch jetzt noch tat.
Sich von Stalin und Honecker zu befreien bedeutet zunächst einmal
noch gar nichts, da dies aufgrund der völligen Unterirdischkeit dieser
Personen und ihrer Politik gewissermaßen Pflicht gegenüber der
eigenen Lebenswürde ist. Ich war mir aber sicher, daß sie grösstenteils
noch dieselben sein würden, nur das jetzt ihr Schrebergarten-Traum
vom besseren Leben endlich Realität wurde, nachdem er vom Realsozialismus
nur noch mit den alten Gartenzwergen angefüllt, aber nicht mit fruchtbarer
Vege-
tation erfüllt werden konnte.Natürlich
war ihre Verachtung gegen-
über der diktatorischen Macht echt, aber
es gehörte angesichts der so offensichtlichen Marodität dieser
Macht nicht viel dazu, sich auf die Seite der aktuellen geschichtlichen
Triebkräfte zu stellen, nachdem man sowieso schon immer und regelmässig
über fehlende Südfrüchte geschafmeckert und gekuhmuht hatte
und jetzt die Stunde gekom-
men war, sie nicht länger entbehren zu müssen,
da der elektrische Zaun ein Loch bekommen hatte und die schmerzhaft abschreckende
Spannung dadurch mit einem Male überall erloschen war.
In seinem Buch „Wie wir uns von Theoreien täuschen
lassen“ schreibt Walter Krämer auf Seite 94 über die 1990 stattgefundene
freie Volks-
kammerwahl der Noch-DDR:“ Vor der Wahl hatte die
SPD in allen Um-
fragen eine große Mehrheit, hinterher aber
nur halb so viele Stimmen wie die CDU. Das lag daran, dass die damalige
Vorliebe der Medien für die SPD für keinen DDR-Bürger zu
übersehen war. Und da sagt man eben, nach der Wahlabsicht befragt,
um des lieben Friedens willen, was der Befrager vermutlich hört.“
Offensichtlich hatte die sogenannte Wende also
gar nicht stattge-
funden. Denn unter Wende in dem Sinne, wie er
seit Mauerfall den Zentral-Terminus der ostdeutschen Befreiung bestimmt,
verstehe ich eine unabhängig von den jeweiligen realpolitischen Veränderungen
stattfindende radikale Wendung im eigenen Umgang mit der Realität.
Wende ist vor allem eine des Bewußtseins, ganz unabhängig von
den Realitäten, gegen welches sich dieses Bewußtsein wendet.
Eine Wende vom Totalitarismus zur Freiheit bedeutet nicht eine Wende vom
Realsozialismus zum Kapitalismus, sondern von der Hörigkeit zur Offenheit,
der passiven Akzeptanz zur Kultur der Hinterfragung. Die äußere
Negation einer bestimmten veralteten Konstellation ist noch lange nicht
synchron mit der inneren Position zu etwas wirklich Neuem. Sie ist, genau
genommen, überhaupt nichts.
Ich konnte berechtigterweise annehmen, daß
aus realsozialistischen Kleinbürgern -nachdem Michael Gorbatschows
Glasnost, DDR-Ausrei-
seund Fluchtwellen und in Massenprotesten gipfelnder,
jahrelanger subkultureller Widerstandskeim die Tür zur Befreiung von
der alten Ordnung geöffnet hatten - jetzt eben grösstenteils
Konsum-Kleinbür-
ger des kapitalistischen Wachstumsmodells werden
würden. Ich halte eine solche Änderung nicht für revolutionär
und Zeichen einer Wende, sondern nur für eine Quantitätssteigerung
der ursprünglichen Orien-
tierungen, welche nun in historisch längst
überfälliger Weise die ro-
stig gewordenen Fesseln zerrissen hatte, von denen
man sich jahr-
zentelang hatte einreden lassen müssen, sie
seien silberne Armrei-
fen. Zuletzt hatte man diese Zerreißung
am 17.Juni 1953 versucht, aber damals siegte das von sowjetischen Panzern
durchgesetzte Primat der Erhaltung des gerademal ein paar Jahre alten militärischen
Gleichgewichts zwischen den beiden Weltsystemen Kapitalismus und Kommunismus.
Ob der 17.Juni, nur weil er sich gegen die östlichen Machthaber richtete,
tatsächlich ein Kampf für echte Freiheit und nicht bloß
eine für die Befreiung vom russisch implantierten Wirt-
schaftssystem war, hat nie jemand gefragt.
Letztlich stellten die Unruhen eskalierte Streiks für die Rücknahme
der Arbeitsnormer-
höhungen dar. Als diese Normerhöhungen
daraufhin zurückgenommen worden waren erweiterten sich die Streikziele
von rein wirtschaft-
lichen auf politische in Form von freien und geheimen
Wahlen in ganz Deutschland. Der Westberliner Radiosender RIAS agierte dabei
ge- wissermaßen als das Facebook der damaligen Zeit und so sehr die
realsozialistische Reaktion ihn als Hort der vom Ausland betriebenen Konterrevolution
disqualifizierte, so notwendig war doch seine infor-
mierende, inspirierende und teilweise auch koordinierende
Tätigkeit in Zeiten, als es in der Bevölkerung noch keinerlei
Technik zur schnellen Informationsverbreitung gab.
Da die Ideologen des Nachkriegssozialismus ihren
mitiltärstrategisch implantierten Retortensozialismus als Revolution
verstanden , konnte jede negative Reaktion darauf dann natürlich nicht
anders denn als Konterrevolution verstanden werden. Es handelt sich in
dieser sprach-
lich erzeugten Suggestion um ein Paradebeispiel
totalitärer Rhetorik, wie sie in George Orwells Roman „!984“ so prägnant
geschildert wird.
36 Jahre später gab es erneut eine Revolte
gegen Normerhöhung, nur daß die Normerhöhnung diesmal darin
bestand, dem alten Regime angesichts seiner zunehmenden Legitimationsverluste
-diese Verluste ausgleichend- einen noch höhere Glaubwürdigkeitskredit
zu geben als seit Beginn seiner Existenz. Da der Kredit nicht gegeben wurde
und stattdessen die Zinsen der auf die in den Jahren angewachsenen Glaubwürdigkeitsschulden
immer mehr stiegen, half man einfach mit Wahlergebnis-Fäschungen nach.
Doch anders als 1953 ging die Rechnung diesmal
nicht auf und das aus einem ganz einfachen Grund: Diejenigen, die dieses
System erst auf deutschem Boden implantiert und es 1953 gegen deren Gegner
mit gepanzertem Ausnahmezustand verteidigt hatten ließen die Mil-
lionen ihrer deutschen Kollaborateure einfach
im Stich, weil ihr Re-
gierungsführer Gorbatschow zumindest offiziell
einen Reformsozia-
lismus anstrebte, der mit den totaltär-konservativen
Kräften nicht zu machen war. Inoffiziell handelte es sich eher um
die in radikalrefor-
merische Aufbruchstimmung verpackte Abwendung
des totalen Zu-
sammenbruchs des Kommunismus, der aber dann trotzdem
erfolgte und innerhalb weniger Jahre durch den – ihm in punkto totalitärer
Machtkonzentration ebenbürtigen -imperialistischen Oligarchismus ersetzt
wurde.
Der Doppelumsturz
Nach dem Ende der alten osteuropäischen Führungsparteien
folgte das Ende von Glasnost. Der Fall der Mauer war letztlich nicht auf-
zuhalten. Aber man hätte die Reisefreiheit
auch ohne Mauerfall gewährleisten können. Für das ursprünglich
artikulierte "Wir wollen ja nur mal gucken, wir kommen ja wieder" hätte
es auch gereicht, die Grenzübergänge nun jederzeit für DDR-Bürger
passierbar zu machen. Das SED-Regime wußte aber seit Jahrzehnten,
daß „mal gucken“ auf „mal irgendwann auch haben wollen“ hinauslaufen
würde und hatte genau danach seine rigide Praxis ausgerichtet, die
jeden Keim dieser von ihr vorausgesehenen Entwicklung ersticken sollte.
Es war ja klar, daß die DDR-Bürger die
jahrzehntelang existierende Unmöglichkeit, ihre eigene - durch die
Reiseunfreiheit erst zur Ge-
fängnismauer gewordenen- Mauer nicht
zerstören zu können, sie, sobald sie Gelegenheit dazu bekommen
würden, dann von der Westseite aus zu Fall bringen würden.
Und so nahm die Zerstörung ihren Lauf. Das Weghämmern der Berliner
Mauer bedeutete auch ein Weghämmern von Glasnost, denn die Existenz
des Real-Sozialismus und seiner auch gegen unkontrolliert hereinströmende
äußere wirt-
schaftliche Einflüsse schützenden Grenzen
war ja die Voraussetzung, um eine innerkommunistische Erneuerung überhaupt
beginnen zu können. Dabei schien das Projekt Glasnost mit seiner vermeintlichen
progressiven Erneuerungswillen das Zeug dazu zu haben, teilweise auch die
ebenfalls ranzige und von Bonzen dominierte kapitalistische Welt mitzunehmen,
zum Beispiel in der Weise, daß man eine freie, unkommerzialisierte
Diskurskultur jenseits der Konsum- und Ideo-
logiewelten entwickelt und die Frage nach dem,
was das gute Leben ist, neu stellt.
Wären echte Reformen, Glasnost und dritter
Weg nicht, wenn über-
haupt, dann im Schutze der Mauer und ohne den
nun tatsächlich grenzen-losen invasiven Einfluss westdeutscher Geschäftemacher
und Lebenskommerzialisierer anvisierbar gewesen? So aber flutete
der Tsunami, der zunächst als Befreiungs- und Neugierstrom von Ost
nach West strömte, nun als Kommerzstrom zurück nach Ostdeutsch-
land und Osteuropa, schwemmte all die Goldgräber-Investoren,
Geldnasen, Spekulanten und CDU-Priester mit und traf auf die mei-
stenteils -und verständlicherweise- blinde
Euphorie bürgerfreiheitlich und genussmittelmässig ausgehungerter
Bevölkerungen. Man mußte noch nicht einmal- wie sonst bei kapitalistischen
Verbrauchermassen- in punkto Werbung und Attraktivitätsmaximierung
besonders trick-
reich sein, um dem Ossis den süssen Honig
ums Maul zu schmieren, der selbst in seiner geschmacksarmen Form immer
noch mehr Aroma hatte als all die Substanzen aus realsozialistischer Produktion.
Innerhalb weniger Monate entpuppte sich Gorbatschows
reformso-
zialistische Glasnostrhetorik als Dosenöffner
für die grosse west-
lich-konservative Konserve. Von der einstigen
Ideen der Perestroika ist nichts übriggeblieben. Bereits wenige Jahre
nach dem Zusammen-
bruch des Realsozialismus redete niemand mehr
davon.
Ende zweier Berg-Regionen
Ich persönlich mochte Kreuzberg in seiner
Westberliner Version und insbesondere den Prenzlauer Berg in seiner Ostberliner
Version viel mehr als das, was sie heute -und das letztlich durch die totale
Aufhebung Ost-und Westberliner Besonderheiten- geworden sind. Denn
aus Berlin sollte ja planmässig die Metropole eines wieder gross
gewordenen Deutschlands werden, wozu dann noch die Ni-
schen-Oasen aus einer überholten Zeit des
kalten Krieges in deut-
scher Teilung erhalten. Besonders der Prenzlauer
Berg ist heute nicht mehr wiederzuerkennen und von sogenannter Gentrifizierung
vermit-
tels hipper Kommerzialisierungen völlig geprägt.
Ende der einstma-
ligen Poesie so mancher Hinterhöfe und Plätze.
Stattdessen ein Oscar Wilde-Zitat über dem hippen Sofa der Designer-Wohnung
Nähe der Schönhauser Allee. Hätte man diesen Bezirk angesichts
der offenbar unuasweichlichen Wiedervereinigung sich nicht zu einer
vom Staat gegen Investoren, Hippdesigner und Spekulanten geschützten
Re-
gion künstlerisch und gesellschaftlicher
Visionäre entwickeln lassen können, die als originärer Ort
langjährigen ostdeutschen Diktaturwi-
derstandes auch für das wiedervereinigte
Deutschland als Impulsge-
ber ernstgenommen werden könnten ?
Im anderen der beiden von mir gemochten Bergbezirke,
in Kreuzberg dauerte diese Entwicklung deutlich länger, aber ist jetzt,
während ich diese Zeilen schreibe, weit fortgeschritten. Der
Bezirk hat seinen Punk vollständig verloren. Aus einem Territorium
des anti-spartani-
schen Nichtkonsumismus, in dem das Wort "Reichtum"
noch auf mehr verwies als die dünne Bedeutung des wirtschaftlichen
Aspekts ist ein alternativ angehauchter Dienstleistungsbezirk geworden,
aus dem die frühere Atmosphäre des Nebeneinanders von einfachen
Berlinern, Türken, Punks und Linksalternativen verschwunden ist und
die Räume des Nichts, des Un-Sinns und der ideenprovozierenden Phasen
von Langeweile verschwunden sind, weil die gestiegenen Mieten jeden einstmaligen
Freiraum -den realen und den des Geistes- gezwungen hat, ökonomischer
Nutzraum zu werden
Eine Art wahre Vereinigung
Während nach dem Mauerfall Kreuzbergs Verfall
zur Alternativ-
Konsumbezirk sowieso noch Jahre dauerte, erlebte
der Prenzlauer Berg, bevor er durch seine einsetzende "Hippnes" völlig
herunter-
kommen sollte neben einigen anderen Berliner Bezirken
nach 1989 zunächst eine Blütezeit von Vereinigungs-Zeremonien.
Im Schatten der grossen deutschen Einheit bildeten sich unter den für
anarchoide, kostengeringe Experimente äussert günstigen Umständen
des östli-
chen Umbruchs-Chaos lauter kleine Mikrowelten
. Ostberliner Häuser wurden besetzt, Techno- und andere Underground-
Clubs schossen dort wie Pilze aus dem Boden. Ohne den Mauerfall wäre
Techno heute vermutlich nicht zum Hipp-Garanten und Mainstream-Standard
für coole Kneipenbeschallung degeneriert, sondern hätte sich
vielleicht als Nischenphänomen einer bestimmten westlichen Subkultur
bald wieder verflüchtigt und in kleinen Minoritäten-Milieus erhalten
.So aber eroberte er mit seinem simplen Körper-Rhytmus, der egozen-
trischen Spaß-Attitude und der Magie seiner
synthetischen Sounds schnell grosse Teile der Jugend und machte damit
wie auch die da-
malige Piercing- und Tatoo-Kultur die übliche
Entwicklung vom kul-
tursprengenden „puren Wahnsinn“ in die spätere
Vulgarisierung zur Massenunterhaltung durch.
Als die Mauer fiel, gab es Acidhouse und
Techno schon wenige Jahre in Westberlins Underground. Der fand nun in den
leerstehenden Ge-
mäuern Ostberlins den Raum, den diese Musik
brauchte, damit der Funke von der Westberliner Nische auf „die übrige
Menschheit" über-
springen konnte. Angeregt durch die Magie
von rituell gleichför-
mig wummernden Rhytmen, synthetischen Sounds,
lichtrhytmisch zerhackten Nebelschwaden und grossflächig an die Wände
projizierter Computer-Choreographien beamten sich die vom realsozialistischen
Starrsinn befreiten Ostjugendlichen zusammen mit den von ihrer räumlichen
Enge befreiten Westberlinern lieber gleich auf einen anderen Stern, statt
sich die anarchoide Dynamik der angebrochenen Freiheit vom durchkonventionalisierten
Wiedervereinigungsrealismus rationalisieren, also letztlich wieder
nehmen zu lassen. In den täg-
lich neu entstehenden, manchmal sogar nur für
eine Nacht existie-
renden Clubs fand echte Verschmelzung und Vereinigung
statt, am allerwenigsten als nationale wie die deutsche Wiedervereinigung,
sondern zunehmend als internationale. Es war dabei völlig gleich-
gültig, ob jemand ursprünglich aus Zeitz
oder Braunschweig, Detroit oder Warschau kam, unter dem magischen
Rhythmus und Sound verloren sie -im Gegensatz zu Deutschland, das nun zu
seiner, vom
Sowjet-Kommunismus eingefrorenen alten Identität
zurückkehrte- ihre alten Identitätsgesichter und vereinigten
sich in kollektiven Ekstasen. Statt mit Nationalgefühl berauschten
sie sich mit Drogen und modernen archaischen Rhytmen.
Damit ließen sich gleichzeitig auch
die beunruhigenden und die unwillkommenen Aspekte der Wiedervereinigung
vergessen.
Die neue Mauer
Zur selben Zeit, als diese Menschen ihren naiven
Traum von ma-
gisch-friedlicher „Welteroberung“ lebten und mit
ihrer bewußt un-
politischen Haltung eine ganze Generation entpolitisierten,
weil
ihnen die Sprache ekstatisch-magischer Tänze
viel radikaler erschien als diejenige der Realpolitik robbte sich der Neoliberalismus,
nun befreit von den systemischen und geographischen Grenzen Osteu-
ropas still und heimlich zu seiner "friedlichen
Revolution" vor, die nach dem Dammbruch des Sowjetsozialismus die eigentliche
Wende darstellte und die Welt inzwischen massiv verändert hat. Der
Zu-
sammenbruch des Realsozialismus war ein Meilenstein
dieser Re-
volution. Nun barrierefrei aus dem vollen schöpfend,
breitete sich der unter dem Kosenamen „freie Marktwirtschaft“ auftretende
Kapitalis-
mus nun ungehemmt aus. Es bewahrheitete sich innerhalb
kurzer Zeit, wie recht die Apologeten des Realsozialismus mit ihren Äus-
serungen über die Aggressivität des
Kapitalismus gehabt hatten, obwohl das, was sie da immer gesagt hatten,
immer als Phrase dahergekommen war, die nurmehr die eigenen Bürger
gehirnwaschen sollte.Sodaß die den teilweise wahren Gehalt hinter
den Phrasen gar nicht wahrnahm und ihn entweder genauso dumpf, wie die
Phrase war, teilte oder eben bloß für eine Phrase hielt.
Ronald Reagans "Mr. Gorbatschow, open this gate!"
war nichts weiter als der Versuch, die Mauer als die letzte und vehementeste
Barriere für den Siegeszug des von Margret Thatcher und eben diesem
Reagan angetriebenen Neoliberalismus einreissen zu lassen.
Mit der Grenzöffnung drängten nach und
nach westliche Firmen in das vermöge niedriger Löhne billiger
produzierende Osteuropa, umgedreht wanderten billige Arbeitskräfte
aus Ost- nach Westeuropa und drück-
ten die westeuropäischen Löhne, aus
erkämpften 35-Arbeitsstunden-
Wochen wurden wieder 40 und mehr, ein ohne Existenzvernichtungs-
drohung auskommender Sozialstaaat war angesichts
des Wegfalls der sozialen Konkurrenzmodells Realsozialismus nicht mehr
nötig und so realisierte man mit Agenda 2010 schließlich einen
sozialstaatlichen Kurswechsel, der, hätte man ihn unmittelbar im
Zuge des Mauerfalls begonnen im Westen Deutschlands noch zu heftigeren
Protesten ge-
führt hätte als dies ohnehin seit der
Einführung der Hartz IV- Rege-
lung dann der Fall gewesen ist. Hartz IV ist ein
gutes Beispiel dafür, wie nach der „Verwestlichung“ des Ostens der
Westen „veröstlicht“ wurde. Transparenz und Kontrolle, das Maßnehmen
des Individuums durch sogenannte Maßnahmen (ein in der DDR im Zusammenhang
mit Sanktionierungen häufig verwendetes Wort), die oft keinen anderen
Sinn haben als die Disziplinierung des Einzelnen zu einem - als heilig
geltenden- Arbeitsethos, der angesichts technischer Entwicklungen zunehmend
anachronistisch geworden ist. Die erhaltenen Sozialgelder werden als Leistungen
bezeichnet, um daran zu erinnern, daß jedes in der Leistungsgesellschaft
jedes Geld auf Leistung beruht und durch diese gedeckt ist und es ohne
Leistung daher auch kein Geld gibt.
Eine Behauptung, die sowohl der Realität,
daß die Technik inzwischen einen Großteil für die Gesellschaft
leistet als auch der Tatsache völlig widerspricht, daß unter
Menschen, die -z.B. durch erlangte Erbschaft- viel Geld besitzen,
für das ihnen zur Verfügung stehende Geld sehr wenig oder nichts
leisten müssen, um sehr gut leben zu können. Es handelt sich
bei diesem Begriff also um einen verbalen Betrugs-
versuch im genuin Orwellschen Sinne, der zur Vernebelung
und besseren Unterwerfung derer eingeführt wurde, die auf monetäre
Unterstützung zum Leben angewiesen sind, weil sie nicht arbeiten
wollen, was angesichts der technifizierten Überflußgesellschaft
legi-
tim ist. Die moderne kapitalistische Gesellschaft
ist keine Leistungs- sondern eine Geldgesellschaft und Leistung eine der
Wege, der zu
Geld führen kann, aber nicht zwangsläufig
dazu führt.
Der Umbau der Gesellschaft
Der Neoliberalismus drängte die staatlichen
Markt- Regulierungen,
welche er für überflüssig hält,
da sich der markt angeblich ganz vonselbst reguliert, immer mehr zurück,
riss sie ein. Die heftige Finanzkrise 2009 war sein Produkt.
Die Globalisierung erzeugte vor allem Zugang der
grossen Unter-
nehmen zu enormen Rendite-möglichkeiten auf
der ganzen Welt. Im Sozialland Deutschland wurden Renten und staatliche
Versicherungen privatisiert, staatlicher Besitz an Privatkäufer verscherbelt.
Das Leben ökonomisierte sich rasant und inzwischen lässt sich
längst vom öko-
nomischen Totalitarismus sprechen, der die hochkapitalistischen
Länder prägt. Die Schere von "arm" und "reich" wuchs in den letzten
beiden jahrzehnten enorm. Während die technischen Möglichkeiten
für ein gutes Leben aller immer grösser werden, profitieren von
die-
sen Möglichkeiten nur wenige, aber das ganz
außerordentlich. Auch diese Entwicklung wäre ohne den Mauerfall
so nie möglich geworden.
Der Umbau der Mauer
Die Mauer ist nicht zerstört, sondern nur
verrückt worden. Wenn der "kommunistische" Osten damals unter den
Industriegesellschaften für Mangel und der "freie" Westen für
Reichtum stand, so hat sich diese einstmalige geographische Verortung nun
von der äußeren Welt in die innere der Gesellschaften verlegt.
Eine unüberwindliche Kluft liegt zwischen denen, die gerade so
über-leben und denen, die im doppel-
ten Sinne über-flüssig
leben. Beide sind durch eine Art unsichtbare innergesellschaftliche Favela-Mauer
voneinander getrennt. Angesichts der zunehmenden Verteuerung der Grundhaltungskosten
(vor allem bei Wohnraum )für das Leben muß zunehmend mehr Arbeitszeit
allein für die Notwendigkeiten des Lebens aufgebracht und häufig
trotzdem noch von staatlichen Geldern „aufgestockt“ werden. Die Situation
ist insofern „konterrevolutionär“, als sie zum Zeitalter der technischen
Revolution mit seinen Segnungen überhaupt nicht mehr passt und deshalb
auch mental viel schwerer zu akzeptieren ist als zu früh- oder vorindustriellen
Zeiten.
Die Kluft zwischen den Armen und den Reichen stellt
den neuen Todesstreifen dar, denn tödlich ist dieser Streifen allemal,
wo er über Leben und Siechen entscheidet und zudem schon viele Tote
auf der
ganzen Welt hinterlassen hat.
Diesmal geht dieser Streifen mitten durch die Gesellschaft
und sorgt dafür, daß man von einer der beiden Seiten niemals
mehr auf die an-
dere kommt.
Aber vielleicht ist auch diese Mauer nur der Ausgangspunkt
für eine Befreiung. Eine Befreiung, deren Richtung noch völlig
offen ist.
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